„Linie der Erregung“ lautet der Überschrift in dem Text über Renatas Jaworska Werke geschrieben vom Kurator Ludwig Seyfarth
Das Bild wurde in folgenden Ausstellungen präsentiert:
- 2013 „Eine Explosion wie von 30 Atombomben“ Städtisches Museum+Galerie Engen, D
- 2017 „7+7 Spurensuche“ Kunstverein Singen | Museum Singen, D
Text zu den Bildern von Renata Jaworska von Ludwig Seyfarth zu dem Katalog
„Renata Jaworska. Werke“ ISBN 978-3-89978-233-2
Oft sieht man nur Linien oder durch Linien hindurch. Liniennetze überziehen Pläne und Landkarten, um die Orientierung zu erleichtern, oder ein Linienraster auf einer Scheibe hilft einem Maler oder Zeichner bei der räumlichen Darstellung des Motivs. Oder als Schütze, Fotograf oder Pilot blickt man durch ein Visier oder Objektiv, um ein Ziel genau anpeilen zu können.
Auch auf Renata Jaworska Bildern sieht man auf ein Netz aus Linien oder durch dieses hindurch, oder die Strichführungen verdichten sich zu einem engen Gewirr, das sich wie ein energetisches Spannungsfeld über die Bildfläche zieht. Jaworska ist ursprnglich Zeichnerin und denkt auch bei größeren Gemäldeformaten stets von der Linie, von der Struktur her. Die Linien bauen die Bilder auf, nicht konstruierte Räume oder körperliche Volumen. Das geschieht auf unterschiedliche Weise:
Entweder scheint ein vorhandenes Motiv durch ein Netz überzogen, etwa von unten gesehenen Bäume und Hunde mit einer US-amerikanischen Flagge auf dem Bild Tora Bora, dass sich auf die 2001 in dem gleichnamigen afghanischen Höhlenkomplex geführte Schlacht gegen die Taliban bezieht (S. 25) Wolkenartige Formationen befinden sich hinter einem weißen Strichgewirr (S. 2) oder man blickt durch wie in Linien verwandelte gewordene Lichtprojektionen, die wie ein Spinnennetz in der Luft hängen, in einen Theater- oder Kinosaal (S. 28/29).
Manchmal umkreisen die Striche auch die Umrisse von Gegenständen, etwa den Resten einer kriegszerstörten Landschaft, und wirken hier wie eingeritzt, wie in eine Radierplatte eingegraben (S. 55).
Bei einer Reihe von Bildern bilden die Linien ein relativ gleichmäßiges Raster und weben die Motive gleichsam in sich ein. Dies gilt vor allem für zwei Motivgruppen. Zum einen sind es Menschenmengen oder militärische Szenarien wie eine marschierende Armee (S. 58), zum anderen fliegende Vögel (S. 14/15; 16/17; 42/43). Bei diesen Bildern entsteht auch der Eindruck, als ob die Linien die Flugbahnen der Vögel nachzeichnen würden. Das Motiv kann sich aber auch direkt aus der Struktur der gesetzten Striche ergeben. In flachen Winkeln gegeneinandergesetzten Strichlagen bilden einen Wald von oben ab (S. 46), oder es ergeben sich Formationen, die als Wolkengestalten oder als die Umrisse einer Landzunge auf einer Luftaufnahme gedeutet werden können (S. 57).
Zweideutig bleibt hier auch, ob es sich um eine horizontale oder vertikale Sicht handelt; um die direkte Abbildung eines Motivs oder um eine Art kartografischer Aufzeichnung.
Die Linien können sich gleichmäßig fast wie ein ornamentales Muster verspannen, oder sie erscheinen wie aufgeladene Erregungsspuren, vor allem, wenn sie diagonal auf uns zulaufen wie auf dem Bild Adler? (S. 44/45). Die Verortung des an den deutschen Bundeadler erinnernden Vogels zwischen einer kristallinen Eisstruktur und einer nicht genau definierbaren architektonischen Struktur erinnert an eine bilderrätselhafte Traumsituation, aber auch an kompositorische Vorbilder aus der klassischen Moderne. So mag man an die herabstürzende Menge auf George Grosz’ expressionistischem Großstadtbild Widmung an Oskar Panizza (1919, Staatsgalerie Stuttgart) denken oder an die futuristische Auffächerung der Formen wie auf Umberto Boccionis Der Lärm der Straße dringt ins Haus (1912, Sprengel Museum Hannover).
Diese Bilder entstanden in einer Zeit, als neue Verkehrsmittel und -wege sowie Elektrizitätsnetze die Menschen mit völlig neuen Geschwindigkeiten konfrontierten und die Explosionen des Ersten Weltkriegs große Teile der Erde nachhaltig erschütterten. Schon um 1900 hatte sich in der gesamten „westlichen“ Welt eine auch die Kunst, Literatur und Musik prägende „nervöse“ Erregung verbreitet, die in der Umwelt vor allem „Ströme und Strahlen“ wahrnahm.[1]
Während sich in der expressionistische Kunst die innere Nervosität und Erregung scheinbar direkt auf die dargestellten Motive übertrug, hielten Jackson Pollock und andere „informelle“ Maler der 1950er Jahre solche Spannungen in einem gleichmäßigen All Over gleichsam in der Schwebe. Nachdem die Conceptual Art der 1960er Jahre jeden unmittelbaren Ausdruck innerer Zustände leugnete und darauf beharrte, dass auch bildnerische Sprachen auf der Lesbarkeit von Codes beruhen, konnte man nach landläufiger „postmoderner“ Meinung lineare und gestische Spannungen nur noch „zitieren“.
Renata Jaworska ist keine Künstlerin der Postmoderne mehr. Sie nimmt die Tradition energetischer Erregungsbahnen wieder auf, und die Anklänge an verschiedene Richtungen Moderne sind keine direkten Anlehnungen oder Zitate, sondern sie werden sie wie in einem Vexierbild soghaft zusammengezogen. So erfahren die expressionistischen Erregungsspur und das informelle All Over in ihrer Kunst gleichsam eine posthume Synthese. Auf einigen neueren Bildern nimmt das All Over eine verwandelte Form an. Die Linien sind nicht mehr scharf gezogen, sondern mit einem Sprayer farbig angelegt, und kleine helle rechteckige Flächen sind freigelassen (S. 64-65). Diese haben das Format von Fotos, die mit de I-Phone aufgenommen werden und verweisen auf die heute kursierende Fülle an Bildern, die sich gegenseitig auslöschen, nicht mehr im Gedächtnis festsetzen und auch keine Erregungsspuren mehr hinterlässen.
Renata Jaworskas Kunst weckt zwar Erinnerungen an den Expressionismus und andere Tendenzen der Moderne. Letztlich aber geht es der Künstlerin darum, die Komplexität der heutigen, digital geprägten Welt bildnerisch zu erfassen, wenngleich sie dazu auch Mittel erprobt und neubelebt, die Ausdruck der politischen und kriegerischen Kämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren.
Ludwig Seyfarth
Weiteres über Renata Jaworska: Hier
[1]Dazu umfassend: Christoph Asendorf, Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989.
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